Es war Anfang November. Ich war auf der Rückreise vom Besuch meines Freundes in Almetjewsk, im tiefsten Osten Europas. Ich war mit viel Gepäck unterwegs, hatte einen schnellen Minibus genommen, der mich gegen 8 Uhr am Bahnhofsvorplatz in Kasan aussetzte. Die Fernzüge fahren meistens abends erst in der Republikhauptstadt Kasan ab. Zuerst hatte ich mich darum gekümmert, mein Gepäck zur Aufbewahrung zu bringen. Nun wartete ich. Mein Freund hatte mir für meine Entdeckungstour durch Kasan seine Cousine "beigeordnet". Rufia ist auch aus seiner Stadt, aber lebte und studierte zu jener Zeit im 2. Jahr in der tatarischen Hauptstadt.
Seit 2009 darf sich Kasan dritte Hauptstadt Russlands nennen. Robert vom Osteuropablog hatte eine Meldung des Komersant vorigen April aufgeschnappt. Danach hat sich die Stadt den Titel "Dritte Hauptstadt Russlands" bzw. "Dritte Stadt Russlands" als Marke sichern und beim Patentamt eintragen lassen. Den Titel hatte bis dahin jedenfalls auch Nijnij Nowgorod für sich in Anspruch genommen. Ja, Städte und Hotels werben im Tourismus gern mit derlei stolzen Attributen. Achten Sie mal drauf jetzt bei der Internationalen Tourismusbörse!
Um zirka 9.30 Uhr kam sie mit ihrem Bruder am Bahnhof an. Wir trafen uns an einem Gebäude an der Ecke des mindestens 2 Fußballfelder großen Platzes vor dem Hauptbahnhof, dort, wo sich eine Post befindet, die Hauptpoststelle der Republik. Ihr kleiner Bruder, etwa 11 Jahre alt, hatte eine Sporttasche umgehängt. Er wollte gleich zu einem Rugbywettkampf. Aber Ort und Zeit waren ihnen noch nicht bekannt. Der Trainer von ihm rief dann auch noch gleich an, teilte Rufia aber nicht mit, wo und wann der Wettkampf sein sollte. Na toll, dachte ich. Was ist das für eine Organisation?
Sie müsste ihn natürlich dann hinbringen, wenn der Ort bekannt werde, informiert mich Rufia. Ich bitte beide, in das attraktive rote Bahnhofsgebäude mitzukommen, weil ich dort am Eingang links eine große schön bunt gemalte Karte entdeckt hatte, während ich auf sie gewartet hatte.
Daran zeige ich den beiden, was ich vorhabe zu sehen. Rufia war einverstanden, muss sich aber vorher noch Geld vom Automaten ziehen, der sich an der Wandkarte befindet. Daneben lungern Zigeuner herum, mit all ihrem Sack und Pack und vielen Kindern. Es sind soviele, dass sie hier einigermaßen den Passagierstrom durch den engen Ein- und Ausgang, durch diese einzige Tür als Zugang zu den Gleisen, Fahrkartenschaltern, Wartesälen blockieren. Mit meiner Abschirmung am Geldautomaten meinerseits sieht es deshalb schlecht aus.
Das Wunsch-Programm
Zum Flusshafen an der Wolga, von dort zum Busbahnhof, von dort aus in Richtung Zentrum zum Hotel Tatarstan, durch das Zentrum zum Kreml, dort Rundgang durch die Festung mit Besichtigung der Al Sharif-Moschee.
Wir steigen in einen Bus ein. Es ist so ein kurzer, mit einem Zustieg ziemlich in der Mitte auf der Seite. Wir brauchen nicht gleich bezahlen, wie es sonst üblich ist, sondern erst beim Aussteigen zahle ich für uns, etwa 12 Rubel für Erwachsene. Ich setze mich hinten hin, sie neben mich. Jetzt müssen wir uns erst mal aneinander gewöhnen. Es sind nur wenige Stationen, etwa 1,5 bis 2 Kilometer vom Bahnhofsplatz aus.
Siehe da, offensichtlich ist das Flussbahnhofsgebäude außen gerade frisch renoviert worden. Da liegen noch ein paar Reste vom Baumaterial, Steine. Es weht ein kalter Wind. Zum Glück habe ich Handschuhe dabei. Am Wolgakai ist kein Passagierschiff zu sehen. Die überwintern woanders. Die Flusskräne sind erstarrt. Das Flussbahnhofs-Gebäude ist im Moment nicht in Betrieb. Wir versuchen es nicht, hineinzukommen. Winterpause, hier scheint alles ausgestorben.
Zu Fuß gehts weiter zum Busbahnhof. Das sind fünf oder zehn Minuten. Man muss rechts um das Gebäude herum gehen und von hinten rein, dort, wo die Busse sind. Das Akku meiner Kamera ist so gut wie leer. Ich schaffe noch ein Foto von dem Fahrplan für die Busse, aber keines mehr von der Innenansicht. Weiter gehts, ein Stück zurück in Richtung Flussbahnhof, zur Haltestelle von Bussen und der Straßenbahn. Die alte Tram (Nachbau der tschechischen Tram, mindestens 25 Jahre alt) wird wenig genutzt. Ich nehme an, sie ist zu langsam. Mit einem Bus fahren wir bis zum Hotel Tatarstan am Ende der Tatarstanstraße, einem Betonklotz, der alle anderen Gebäude im Zentrum überragt. Nebenan das (alte) Kaufhaus (russ.: Uniwermag).
Nach meinem Eindruck ist dieses Hotel kaum auf Ausländer eingestellt. Die Bediensteten an der Rezeption beherschen kein englisch. Das Preis-Leistungs-Verhältnis erscheint mir fragwürdig. Einfachste Möblierung, alte Möbel, auch in der Zimmerkategorie Halbluxus (Polulux) oder Luxus. Die Registrierung für Ausländer sei aber möglich, bekomme ich zur Antwort. Die Zimmertüren waren aber schon mit Plastikkarten zu öffnen. Offenbar mangelte es an Investoren. Das kann sich bis heute ja geändert haben.
Vielleicht war dieses Hotel vorher ein Intourist gewesen?! Es ist jedenfalls zentral gelegen und es bietet einen guten Blick von oben auf das Zentrum, wovon man sich auf deren Website www.hotel-tatarstan.ru überzeugen kann. Das Restaurant im Erdgeschoss habe ich kurz mal gesehen.
Rufia bekommt nun einen Anruf vom Trainer ihres Bruders. Sie bekommen nun die Uhrzeit mitgeteilt und Rufia wird ihn zu einer bestimmten Sporthalle bringen. Sie müssen sich sogar beeilen. Es ist ein Wettkampf zwischen Schülern aus Kasan und einer Schülermannschaft aus Almetjewsk. Der kleine Bruder verbringt jetzt seine Ferien bei ihr. Einmal war er schon mal bei ihr zu Besuch. Am meisten mag er an ihrem Computer spielen. - Sie bringen mich noch zum Hotel Schaljapin.
Dann verabschieden wir uns und wir verabreden uns auf später, vielleicht.
Hotel Schaljapin
Ich bekomme gleich einen guten Eindruck von dem Hotel, als ich reingehe. Dass es teurer als das Hotel Tatarstan ist, hat Rufia mir schon gesagt. Aber das hat auch berechtigte Gründe. Es ist ein prächtiges Gebäude am Anfang der Baumannstraße, der Shopping-Straße im Zentrum. Alles ist renoviert, auf hohem westeuropäischen Standard gebracht.
Eine ansprechende Rezeption mit Uhren die auch die Moskauer Zeit anzeigen und vielleicht (erinnere mich nicht mehr genau) die in New York. Hier sind junge zuvorkommende Damen beschäftigt, einige (nicht alle) sprechen englisch. Neben der Rezeption gibt es die Zeitung "Iswestija" und ein Lifestyle-Magazin in Folie.
Im Eingangsbereich und gegenüber der Rezeption hängen Bilder von Prominenten, die hier schon zu Gast waren. Es hängt auch eine Urkunde, wonach das Schaljapin (erst) im Juni 2006 wiedereröffnet wurde. Und es ist schon als bestes Hotel an der Wolga ausgezeichnet worden - dachte ich. Es hieß: Priwolshski (Übersetzung etwa: bei der Wolga). Später erfuhr ich, dass "Privwolschski" einer von sieben Verwaltungsdistrikten in Tatarstan ist, der im Süden. Noch war das Hotel gar nicht klassifiziert, hat also während meines Besuchs noch keine Sterne. Heute aber hat es, wie damals von mir erwartet, vier Sterne.
Der Journalist Peter Scholl-Latour war hier auch Gast, später erfahre ich aus seinem Buch "Russland im Zangengriff" (2006), dass er nur ein knappes halbes Jahr vor mir hier war.
Ich erkläre an der Rezeption, was ich möchte. Eine von den jungen Damen, die englisch spricht, ist so nett und führt mich vom Empfang zu einigen Einrichtungen im Hause.
Zum Betreten des Wellness-Bereichs mit Pool bekomme ich blaue Überzieher aus Folie für meine Schuhe. Ich habe meine schweren Wanderstiefel an. Die bewähren sich jetzt und in den Folgetagen gut bei dem kalten Schmuddelwetter mit Schneematsch. Solche Überzieher aus Folie bekomme ich später noch mal im Kreml von Kasan. Das Fräulein zeigt mir auch den Fitnessraum, das Restaurant, den Konferenzsaal und einen Konferenzraum und verschiedene Zimmer in der Nähe des Atriums. Es gibt eine breite Auswahl an Zimmern bis zur Präsidentensuite. Im Preis eingeschlossen sind (auch für Standardzimmer) neben dem Frühstück auch die Benutzung von Fitnessraum, Sauna und des Schwimmbeckens.
Begegnung in einem leeren Café
Nach dem Besuch des besten Hotels von Kasan schlendere ich durch das Zentrum und finde ein Café, das sich im Keller eines Hauses befindet. Dort ist gerade kein Gast. Aber egal, ich brauche mal einen warmen Ort und Ruhe, um in meinem Russland-Reiseführer von Lonely Planet die Seiten zu Kasan zu lesen, um zu entscheiden, was ich unternehmen kann, was ich recherchieren kann. Allerdings ist der in dem bekannten Reiseführer der Abschnitt zu Kasan relativ dürftig. Hier im Cafe arbeitet Mavlina an der Bar, eine junge Frau Anfang Zwanzig.
Ich fange wie immer mit russisch an. Als sie bemerkt, dass ich Ausländer bin, spricht sie englisch. Sie hat an der Uni drei Jahre englisch und deutsch gelernt. Danach hat sie hier angefangen. Denn sie hat als Lehrerin keinen Job gefunden oder konnte hier mehr verdienen als wenn sie als Lehrerin arbeitet. Dieser Job hier ist langweilig. Es gibt nur wenig Gäste, wohlhabendere. Die Preise hier sind schon etwas höher als in den Bistros. Mein Capuchino kostet 40 Rubel. Ja, ihr fehlt das Sprachtraining. Sie holt ein altes Englisch-Lehrbuch hervor. Damit übt und wiederholt sie. Das Buch wurde in einer Bibliothek ausgesondert und ihre Mutter hat es mitnehmen können und ihr geschenkt.
Ich empfehle ihr, das Internet zu nutzen, da kann sie leicht Leute in aller Welt kennen lernen und mit ihnen in englisch kommunizieren. Sie [...Next]