Mit dem Bus kam ich am frühen Abend aus Samara an. Mein Bus, ein alter Ikarus, war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, die Beinfreiheit viel zu gering. Mit Zug anzureisen war nicht möglich. Kaum war ich ausgestiegen und dem Busfahrer gefolgt, um mein Gepäck zu bekommen, da rief mich schon mein Freund. Er war direkt von seiner Arbeitsstelle zum Busbahnhof gekommen. Auf dem Weg zu ihm benutzten wir einen Nahverkehrsbus. Rushhour. Aber die Fahrt dauerte nicht allzu lange. Zu Hause angekommen, gingen wir erst einmal in einen kleinen Laden in der Nähe einkaufen. Wieder zurück, erzählte er mir in der Küche beim Tee von seinem Arbeitstag und schlug vor, dass ich ihn am nächsten Tag zur Arbeit begleite.
Zu Besuch bei einer Erdölfirma
Das tat ich gerne. Ich war wirklich neugierig auf seine Firma Tatoilgas. Ein firmeneigener Bus holt die Mitarbeiter ab. Auf dem Gelände an der Uliza Tuchbatullina, das sehr gepflegt ist, steht in der Nähe des Eingangs eine Art Tränke für Pferde, mit Bürsten. Da wäscht man sich die Schuhe ab, bevor man in das Gebäude eintritt. Auch wenn die Stadt generell ziemlich sauber ist - in diesen Tagen hatte es Regen und Schnee gegeben. Da gab es auch viel Moder. So eine Schuhreinigungsrampe war mir zuvor noch nicht in Russland begegnet, sah ich später aber auch an einer Schule in Almetjewsk.
Der Pförtner im Tatoilgas-Hauptquartier warf einen Blick in meine Tasche, in dem sich mein Notebook befand. Wir gingen dann direkt in sein Zimmer. Kurze Zeit später traf seine Kollegin ein, auch Juristin. Ildar hatte für mich eine kleine Aufgabe, mit deren Lösung ich ihm auf meinem Notebook helfen konnte. Zum Mittagessen gingen wir in die Kantine im Keller des Gebäudes. Zu uns an den Tisch gesellte sich eine Geologin. Er ließ mich bei ihr und setzte sich an den Tisch seines Vorgesetzten. Währenddessen hatte ich eine erste Gelegenheit zur Konversation.
Beim Verlassen des Speiseraumes sagte mir Ildar diskret, wer dieser und jener Kollege war. Auf unserer Etage ging er mit mir gleich zu seinen Kolleginnen in einem größeren Raum. Hier war die Finanzbuchhaltung, wo sechs Damen saßen, Russinnen und Tatarinnen. Ich wurde am Fenster bei der Leiterin platziert und arbeitete weiter an der Aufgabe, die mir mein Freund vorhin gegeben hatte. Am Nachmittag brachte eine junge Mitarbeiterin, die Briefe zur Post getragen hatte und für die Firma bei der Bank war, Kuchen oder Waffeln mit und wir tranken alle Tee. Mein Freund hat nicht zu allen Kollegen in der Firma einen guten Draht. Aber hier im Raum ist er gern gesehen und ich als sein Freund war freundlich aufgenommen worden.
Ich kam auch am nächsten Tag mit zur Arbeit, wieder zur Finanzbuchhaltung. Die Frauen übergaben mir am Ende des zweiten Tages ein Andenken, einen Filofax-Kalender fürs neue Jahr von der Firma, einen Wandkalender der Firma mit Bildern von der Ölförderung und einen Kuli. Wir tauschten auch die E-Mail-Adresse aus und später grüßte ich sie aus Deutschland.
Nach dem ersten Arbeitstag zeigte Ildar mir Fotos, auch welche von Veranstaltungen mit seinen Arbeitskollegen. Später spielten wir eine Partie Schach. Dann kam sein Freund Juri vorbei, ein Autohändler. Ich erfuhr was über die Branche in Tatarstan. Er wollte am nächsten Morgen nach Nabereschnye Tschelny fahren, Ersatzteile besorgen. Naberejnye Tschelny ist eine Metropole am Fluss Kama, in der der LKW Kamas hergestellt wird. Mein Freund wollte, dass wir uns besser bekannt machen und dass ich deshalb mit Jura mitfahre. (Er hatte früher, vor meiner Reise, mal über Ildar anfragen lassen, was bestimmte Autoteile in Deutschland kosten; Reifen für PKWs, Beleuchtung. Ihn interessierte der Import aus Deutschland.) Ich war einverstanden, denn ich wollte was erleben und mein Russisch verbessern. So einigten wir uns, dass Ildars Freund mich mitnimmt, mich hier um 6 Uhr abholt.
Am nächsten Morgen stand ich um 5.15 Uhr auf. Da war mein Freund schon vom Frühsport im Wohnviertel zurückgekehrt und gewaschen. Doch sein Freund kam nicht, meldete sich auch nicht. Wir waren enttäuscht. Ich zog mich wieder um, für das Büro die besseren Sachen. Im zweiten Morgen-Bus der Firma war auch die schwarzlockige mit dem blauen Anorak drin, die ich schon auf einigen Seiten seiner Fotoalben gesehen hatte und die gestern abend auch im Nachhause-Bus war.
In seinem Bürozimmer angekommen, ging es zwischen uns um die Frage, wo ich sitzen und tippen würde: an dem kleinen Tisch an der Wand oder bei seinen Kolleginnen in der Finanzabteilung, bei denen ich mich gestern mit "Bis Morgen" verabschiedet hatte. Er ließ mir die Wahl, meinte aber, ich könne doch hier sitzen. Ich ging aber rüber und fragte die Kolleginnen, ob ich stören würde. Nein. Die Frau, die gestern fehlte, saß an dem Platz, an dem ich gestern gesessen hatte und dabei einige Leute zu einem Kommentar veranlasst hatte.
Ich bekam an der Wand mit dem Fenstern neben der Chefin der Abteilung einen Platz und tippte. Es gab am Vormittag häufiger Leute, die Rechnungen vorbei brachten und zu besprechen hatten. Sweta, die schwarzhaarige Tatarin, ging am späten Vormittag wieder zur Bank.
Ich wurde um 9.30 Uhr gefragt, ob ich mitkomme einen Tee zu trinken. Ich folgte den Frauen in die Kantine. Ich wählte einen süßen Kascha und ein Gebäck mit einem Teigklecks in der Mitte. Ich hätte bezahlt, aber die Frau von gestern am Tisch fragte mich was. Ich sagte, ich hätte keinen Ausweis und bin nur gestern und heute zu Gast. Dann, sagte sie, brauche ich nicht zu zahlen. Dann setzte ich mich zu einer Kollegin, an deren Tisch noch zwei Kollegen saßen. Diese Frühstückspause dauert eine halbe Stunde.
Zur Mittagspause kam Ildar rein und sagte, wir sollten essen gehen. Ich schaltete mein Notebook aus. Er sah es, ging raus. Ich folgte, aber sah ihn nicht mehr. Möglicherweise ist er noch schnell zur Toilette gegangen? Oder doch schon vorausgegangen zur Kantine. Dann gehe ich eben herunter. Unten in der Kantine war er nicht. So setzte ich mich beim Pförtner auf das blaue Ledersofa und wartete auf ihn.
Er kam aber nicht. Da kam Sweta vorbei und fragte, ob ich denn nicht essen gehe. So folgte ich ihr. Er war aber (immer noch) nicht in der Kantine. Mir gefiel das auch nicht, ohne ihn hier zu essen. Aber warum hat er auf mich nicht gewartet und war gleich wieder verschwunden, ohne zu sagen, wohin er geht? Ich sagte nun der Köchin, die Essen ausgab, dass sie mein Essen auf Ildar anrechnet und aß am Tisch mit Sweta. Dann beeilte ich mich aber wieder hochzukommen und ging in sein Büro. Seine Kollegin war auch da. Er hatte hier auf mich gewartet. Und machte mir Vorwürfe. Jetzt könnten seine Kollegen denken, zwischen uns gibt es Probleme, wenn wir nicht zusammen essen und ich auch nicht bei ihm Zimmer schreiben würde. Um diesen Glauben nicht zu verstärken, bot ich an, zurück zu ihm zu kommen mit dem Notebook. So gingen wir gemeinsam in die Finanzabteilung und ich holte mein Notebook und blieb dann bei ihm.
An diesem Erlebnis sieht man, wie konzentriert man als Gast sein muss, wie leicht es zu Missverständnissen kommen kann und wie leicht man sich unbeabsichtigt Ärger einhandeln kann. Wir Deutschen sind in bestimmten Dingen wohl direkter, entlasten uns damit nämlich insofern, als wir nicht soviel rätseln müssen, was andere von uns wollen, was als vereinbart gilt und was nicht. Dass mein Freund sich solche Gedanken machen würde, was seine Kolleginnen über ihn denken könnten, wenn ich nicht bei ihm im Zimmer säße, ist mir nicht in den Sinn gekommen, wo er mir doch die Wahl gelassen hatte. Mir war doch daran gelegen, Menschen kennen zu lernen.
Am Nachmittag sagte mein Freund dann, wir sind jetzt eingeladen. Wir gingen in die Finanzabteilung. Dort setzten wir uns um den Tisch der Chefin bei Tee und Süßem. Es wurde gescherzt...
Ich wurde von Sweta gefragt, wann es am besten ist, nach Deutschland zu reisen (So eine Frage hatte schon die Juristin in der IHK in Krasnodar vor einer guten Woche gestellt.). Ich sagte, im Februar sind die Hotels in Berlin am billigsten. Von der Frau, die gestern nicht da war, wurde ich gefragt, ob es in Deutschland viele ledige Männer gäbe. Ich bejahte. Besonders in Berlin gibt es viele Singles, hob ich hervor. Und man brauchte ja nur einen Zug nach Moskau und von dort aus einen Zug nach Berlin oder einen Billigflug nach Berlin. Ich dachte mir: na, vielleicht werde ich speziell den Russinnen reisen anbieten, auf denen sie Chancen bekommen, deutsche Männer kennen zu lernen. Ildar sagte mir aber später, dass bis auf Julia alle Frauen in diesem Raum verheiratet sind. Mir wurde Julia von ihren Kolleginnen interessant gemacht. Julia spielte mit, zeigte sich nicht offensichtlich abgeneigt. Gestern bin ich schon von diesen Frauen gefragt worden, ob ich gerne Billard spiele. Ich sagte, nicht gut. Und Bowling? Das würde wohl mehr Spaß machen, sagte ich.
Ich sagte, ich hätte eine Schwester, die eine Tochter hat, die ist 21. Und wie alt ist Julia? Sie sagte, sie ist 23. Ildar wollte schon aufstehen. Aber die Kolleginnen konnten ihn noch zum Sitzenbleiben bewegen. Als wir dann aufstanden, hielt mich die Chefin noch zurück und bei Sweta am Platz holte sie einen Beutel hervor, in dem sich ein Wandkalender befindet sowie ein Terminkalender und Kugelschreiber, alles Werbegeschenke der Firma. Mir wurde ein Kompliment gemacht, das ich erwiderte. Sie sagten, ich solle wieder kommen. Man könne mit ihnen gut arbeiten. Ich sagte, ich könnte mir ein Praktikum bei ihnen vorstellen. Aber mein letztes hatte ich voriges Jahr und als angehender Geschäftsmann würde ich keine Praktika mehr machen. Ich versprach, einige Fotos zuzusenden. Aber hier von uns Fotos zu machen, haben wir vergessen.
Ildar sagte im Büro, wir sind [...Next]