Der DJV hat bundesweit 40.000 Mitglieder. Mit Russland hat sich der Verband bisher noch nicht groß beschäftigt.
Auf dem Podium haben vier Leute Platz genommen:
Frau G. Dornblüth, DJV – Gesprächsleiterin
Frau S. Adler – war 6 Jahre lang Korrespondentin für Radio Moskau und ist bei der Deutschen Welle.
Herr. A. Sosnowski, Journalist – ist in Kiew aufgewachsen, hat für das staatliche Fernsehen gearbeitet, z.B. für RTR, wanderte 1990 nach Deutschland aus.
Herr D. Tultschinski – Diplomdolmetscher und Übersetzer, kam zu RIA Nowosti, seit 2001 in Berlin. Verfolgt die russische und die deutsche Medien.
Dornblüth:
Im Jahre 2005 sind in Russland acht Journalisten tätlich angegriffen worden, weitere acht sind festgenommen worden und zwei sogar getötet worden. Weitere Beispiele aus anderen Jahren werden von Frau Dornblüth genannt.
Adler:
Zeitung lesen ist in Russland ein mühsames Geschäft, weil (objektive) Nachrichten und Berichte (mit Meinungsäußerungen) in den Artikeln vermischt sind. Man weiß nicht, wann der Autor seine persönliche Meinung wiedergibt.
In Moskau gibt es unendlich viele Radiosender.
Immer wichtiger für die journalistische Tätigkeit wurde die Internetrecherche.
Sosnowski:
Über Satellit kann man in Deutschland über 30 russische Fernsehprogramme empfangen. Aber es gibt überhaupt keine Vielfalt in ihren Nachrichten. Überall die gleichen Meldungen und Bilder. Das kann kein Zufall sein. Es ist offensichtlich, dass dahinter Zensur steht.
Er hat mal als Korrespondent in Ex-Jugoslawien gearbeitet. Er wollte Tschernomyrdin interviewen. Vorneweg ist ihm gesagt worden, welche Fragen er zu stellen hat und wie. Andernfalls, wurde schon angekündigt, würden die Antworten für die Ausstrahlung herausgeschnitten.
Schlussfolgerung: Das hat mit Journalismus nichts mehr zu tun.
Adler:
Nennt weiteres Beispiel: die Kältewelle in diesem Winter in Russland. Die drei wichtigsten TV-Sender brachten jeden Tag Berichte aus verschiedenen Städten. Jeden Tag kam eine andere Stadt dran. Aber von Sender zu Sender jeweils immer die gleiche Berichterstattung, mit den gleichen Bildern. Schlussfolgerung: Das ist so von oben gewollt. Gleichschaltung. Die Medien sind nicht mehr dazu da, Politik zu kontrollieren, sondern nur Werkzeug der Politik.
Aber was heißt das für das Land?
Die Politiker haben in der Folge aber auch keine Möglichkeit mehr, Realität zu erfahren. Frau Adler hält diese Medienpolitik für unklug. Das wird später einmal herb auf die Politiker zurückschlagen. Sie erinnert an die DDR-Verhältnisse, die Ausblendung der Realität durch die DDR-Führung.
Eine kritische Putin-Berichterstattung findet praktisch nicht statt. Es findet eine unglaubliche Entpolitisierung im Fernsehen statt. Also: statt Politmagazine Spielshows.
In den Zeitungen gibt es noch kritische Berichterstattungen. Aber aber das Medium Zeitung spielt im Lande praktisch keine Rolle, nur in Moskau und vielleicht noch in St. Petersburg und Jekaterinburg.
Tultschinski:
Meldet sich zu Wort und macht auf mich den Eindruck, als möchte er beschwichtigen, entdramatisieren, verharmlosen. Das sind deutlich andere Töne als von seinen VorrednerInnen. Ich stelle mir gerade vor, dass der russische Geheimdienst in diesem Raum mit anwesend ist und Tultschinski das sehr bewusst ist. Ich habe das Gefühl, er traut sich nicht, offen zu sprechen. Er ist auch am wenig konkretesten in seinen Äußerungen.
Er wird aus dem Publikum gefragt: Wie fanden Sie die Berichterstattung zu Beslan?
Da hat er ein paar Schwierigkeiten, sich zu erklären. Er stammelt, stottert, windet sich.
Sosnowski:
Kommt noch mal von allein, obwohl nicht er dazu gefragt worden ist, auf Beslan zu sprechen. Er ist offensichtlich mutiger mit dem, was er hier sagt. Er sagt, auf der Liste der Vereinigung „Reporter ohne Grenzen“ steht Russland auf dem 138. Platz, was Angriffe auf Journalisten betrifft. Es laufen zwar Gerichtsprozesse zur Ermordung von Journalisten. Aber die kommen einfach nicht voran. Scheinbar besteht kein Interesse an der Aufdeckung dieser Straftaten. Sosnowski spricht auch den Karikaturenstreit an, der im Februar sich von Dänemark über viele Länder zog. Ungeachtet der Proteste in der islamischen Welt gab es doch in Russland einige Karikaturisten, die sich davon nicht einschüchtern lassen haben. Er teilt als Beispiel unter dem Publikum Kopien einer Karikatur aus, die umgeben ist von einem Kreuzworträtsel. Aber sämtliche Karikaturisten wie dieser hier sind von ihrer russischen Zeitung daraufhin entlassen worden.
Tultschinski:
Er greift die Äußerungen von Sosnowski an. Wie könne der es wagen, verschiedene Tatsachen oder Sachverhalten vor diesem deutschen Publikum in einen Zusammenhang zu bringen, dass es einen falschen Eindruck erhalten müsse.
Also: Sosnowski spricht erst von der fehlenden Pressefreiheit, dann spricht er die Ermordung von Journalisten an. Unerhört findet das Tultschinski.
Ich glaube aber, dass die Mehrheit im Publikum erkennt, um was es Tultschinski geht und dass er anscheinend ein recht regierungsfreundlicher Journalist ist. Mir ist bekannt, das Ria Nowosti ja ein Sprachrohr der Regierung ist, als Nachfolger der größten staatlichen russischen Presseagentur, die es schon zu Breschnew-Zeiten gab.
Hinter mir sitzt eine Frau um die 30, die sich zunehmend aufregt. Sie stellt sich mit deutschem Namen vor. Vielleicht ist sie ja Russlanddeutsche, vermute ich. Sie scheint hier aber Tultschinski zu unterstützen. Sie schreibe für die Nesawisimaja Nowosti und sie kennt viele Journalisten in Russland, vor allem viele junge Journalisten. Vor allem sind die für Zeitungen tätig, aber auch für Radiosender. Und denen wurde nicht aufoktroyiert, was sie zu schreiben hätten.
Ihr geht es wohl darum, die Verhältnisse richtig zu rücken. Also: Was Sosnowski erzählt, sind vielleicht (, wenn die Wahrheit nicht bestritten wird, was für mich nicht deutlich erkennbar wird,) Einzelfälle. Aber die Mehrheit der Journalisten könne frei bestimmt arbeiten.
Auf sie (die hinter mir sitzt) reagiert Frau Adler:
Es sind vor allem Fälle in der Provinz, wo die Journalisten mit Drohungen und Verleumdungsklagen überzogen werden, wenn sie nicht das tun, was ihnen gesagt wird. "Wenn Sie die Freiheit ausreichend finden, haben wir vielleicht ein unterschiedliches Verständnis von dem, was Pressefreiheit ist." Ich höre, wie sich die Dame hinter mir nach diesen Worten wieder aufregt.
Jetzt meldet sich aus dem Publikum eine andere (ich nehme an: deutsche) Journalistin. Sie hat selbst Behinderungen erlebt. Man ließ sie an der Grenze nicht einreisen, als man erfuhr, worüber sie Bericht erstatten wollte. Solche Berichterstattung war nicht erwünscht. Sie musste umkehren.
Jetzt meldet sich aus dem Publikum Herr Franke von Amnesty International. Er gibt sein Statement ab. Es gäbe in Russland und Deutschland unterschiedliche Verständnisse von der Freiheit. Der russische Journalist identifiziert sich doch mit seiner Zeitung, mit seiner Agentur, bei der er Arbeit hat. Und blendet Kritik, die gegen sie geübt wird, aus.
Ja, denke ich, da dürfte was Wahres dran sein. Ich kann eine solche Mentalität nach meinen eigenen Erfahrungen bestätigen. Es ist diese Art Brüderlichkeit, über die ich erst vor wenigen Tagen einen Artikel auf www.007-berlin.de gelesen habe, die der Deutsche so nicht kennt. Diese Brüderlichkeit hat an sich, dass man die Leute, die einem nahe stehen, mit denen man sein Schicksal teilt, nicht kritisiert. Darauf kommt die Diskussionsrunde auch noch zu sprechen…
Adler (auf eine Frage aus dem Publikum antwortend):
Ja, die Akkreditierungsanforderungen an Journalisten sind in letzter Zeit gestiegen. Man kommt oft gar nicht mehr an den Ort heran, über den man berichten will. Der wird von Sicherheitskräften vor Journalisten abgeschirmt. Der Journalist, der da durch will, muss sich Fragen gefallen lassen, was er berichten will, wohl auch, wie, in welcher Form. Es kommt zu erheblichen Behinderungen der journalistischen Tätigkeiten (journalistische Ermittlungen, Interviews vor Ort).
Frau Adler sagt, dass sie aber nicht immer nur negative Erfahrungen sammelte. Als Beispiel für eine positive Erfahrung nannte sie einen Besuch in Archangelsk. Sie wollte dort aus einem Gefängnis berichten. Da hat man ihr angeboten, selbst auszuwählen, aus welchem von mehreren Gefängnissen sie berichten will. Sie konnte dann wohl auch in dem Gefängnis frei arbeiten. Sie sagt, es hänge eben doch oft viel von Individuen ab, von einzelnen Menschen. Auch auf ihrer Seite der Journalisten gäbe es ja korrupte Menschen. Es gibt in der Bevölkerung die weit verbreitete Meinung über die Berichterstattung: "Die lassen sich kaufen, um der Obrigkeit genehme Berichte zu liefern." Hinter mir die Journalistin ist hörbar in ihrer Ehre gekränkt und regt sich wieder auf.
In Russland ist im Allgemeinen schon Kritik verpönt, meint Frau Adler.
Sosnowski (daran anknüpfend):
Wenn man ORT oder RTR-Fernsehen schaut, bekommt man vorgekaute Nachrichten, gleichgeschaltet, wertlos. Ihn kotzt das an.
Er hat auch in Großbritannien erlebt, dass man dort nicht wollte, dass er Bericht erstattet (Worüber, habe ich nicht mitbekommen. Vielleicht über einen russischen Staatsbesuch?!). Man hatte ihn dort zwei Tage lang observiert.
Die russischen Nazis können ihr faschistisches Gedankengut im Internet frei verbreiten. Da kann er gleich 20 Webseiten aufzählen. Auch das ist russische Presse-"Freiheit". Das ist pervers.
In Russland gibt es keine reifen Bedingungen für einen unabhängigen Journalismus.
Dornblüth:
Es gibt in Russland auch keine objektive Berichterstattung. Welche Folgen hat das langfristig für Russland (an Adler)?
Adler:
Wenn wir über Pressefreiheit reden, müssen wir über Tschetschenien reden. Dieses Thema ist aber in Russland Tabu.
Die russische Politik kann es nicht verhindern, dass dazu Berichterstattung erfolgt. So werden Reisen für ausländische Journalisten dorthin organisiert. Aber dabei bekommen diese Ausländer nur das zu sehen, was sie zu sehen bekommen sollen (nicht: wassie sehen wollen oder wen sie sprechen wollen). Sie bekommen keine Gelegenheiten, (frei) Interviews durchzuführen.
Zuhörer von meiner rechten Seite:
Vielleicht ist es doch der Unterschied der Mentalitäten: Für die in Tschetschenien lebenden Menschen ist es erlebte Normalität, wenn sie von der russischen Armee drangsaliert, zusammengeschlagen werden. Das auch noch in ihren Medien zu lesen ist für sie da nicht mehr so wichtig. Sondern tatsächlich vielleicht wichtiger, davon zu erfahren, dass z.B. bestimmte Einrichtungen aufgebaut und eröffnet wurden, die Infrastruktur verbessert wird. Und so komme es vielleicht, dass sie die unfreie Berichterstattung als nicht so schlimm erleben?!
Die junge Journalistin hinter mir kann kaum an sich halten und ruft: "Nicht so höhnisch!"
Sosnowski:
Die Medien werden bestimmt durch die Oligarchen. Denen gehören doch die Zeitungshäuser und Fernsehsender. Auch Michael Chodorkowski war für zwei Jahre Mitinhaber der Zeitung gewesen, für die er gearbeitet hatte. Die Oligarchen sind mitschuldig für diesen Zustand.
Adler:
Einspruch: Privateigentum an den Medien ist noch nicht die Ursache für die fehlende Pressefreiheit. Privateigentum an den Medien gibt es doch bei uns auch. Und trotzdem gibt es die Pressefreiheit.
Sosnowski:
Das wollte ich gar nicht sagen. Aber die Oligarchen haben die Medien gekauft, ohne reif dafür zu sein. Sie können damit nicht umgehen, sind nicht vom Fach, haben keine Erfahrungen mit der Pressefreiheit (westlichen Standards?) Sie haben zwar Macht. Wenn sie sich auskennen würden mit Presse und ihnen die Idee der Presse am Herzen liegen würde, dann könnten sie wohl auch einiges dafür tun, dass die Meldungen ihrer Zeitungen oder Fernsehprogramme kritischer Bericht erstatten (Anm.: das sind meine eigenen Worte dessen, was S. wohl meint sagen zu wollen).
Der Zuhörer von der rechten Seite von vorhin noch mal:
Obwohl es bei uns auch Eigentum an den Medien gibt, gibt es Tendenzschutz. (Dieser Mann erklärt den anderen Zuhörern aber nicht, was Tendenzschutz ist. Es kommt nicht so ganz deutlich herüber, was er damit sagen will.) Und ja, trotz Privateigentums an Medien gibt es Pressefreiheit. Wegen des Tendenzschutzes können die Journalisten aber auch nicht ganz nach Belieben berichten, sondern sind ihrem Arbeitgeber verpflichtet, den Tendenzschutz des Mediums zu beachten.
"Also was ist denn nun der Unterschied zwischen russischem und deutschem Journalismus?", fragt er.
Diese Frage wird nicht mehr aufgegriffen. Frau Dornblüth weist auf die Zeit hin: 21.10 Uhr. Sie beendet die Diskussion.
[erstellt worden am 5.3.2006]
Link zum Thema:
Filmbericht über die junge Journalistin Jelena Kostjuschenko, 3SAT
http://www.3sat.de/mediathek/frameless.php?url=/specials/118386/index.html
12.12.2009
Die Arbeit von Journalisten und Medien in den russischen Regionen, herausgegeben von den Reportern ohne Grenzen:
http://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/rte/docs/2009/ROG-Atlas.pdf